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Der Brexit stellt auch Erasmus+ auf den Kopf

Was sich durch den EU-Austritt Großbritanniens für das populärste Bildungsprogramm Europas, Erasmus+ ändert.

Ein Wandgemälde des britischen Künstlers Banksy in Dover.
Ein Wandgemälde des britischen Künstlers Banksy in Dover.

Ein kurzes Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Ihnen würde angeboten, dass Sie sich einige Monate lang im europäischen Ausland fortbilden dürfen. Den Zielort können Sie selbst wählen. Was glauben Sie, für welches Land sich die meisten entscheiden würden? Spanien? Italien? Portugal? Falsch gedacht: Bei jenen Österreichern, die sich 2019 im Zuge des EU-Programms Erasmus+ beruflich fortbilden wollten, war Großbritannien die beliebteste Destination. Mehr als 1200 Praktikanten - etwa jene von berufsbildenden Schulen oder alle, die ihr Praktikum während der Lehre im Ausland machen wollten - wählten das Vereinigte Königreich. Und auch bei Hochschülern war Großbritannien mit 755 Studenten eines der drei beliebtesten Länder. Nur Spanien (1115) und Deutschland (1995) konnten mehr Studierende anlocken. "Allein diese Zahlen zeigen, dass der Brexit für Erasmus+ schon ein Drama ist. Wir verlieren den Zugang zu einem attraktiven Bildungsland", sagt Jakob Calice, Geschäftsführer des OeAD, der heimischen Agentur für Bildung und Internationalisierung.

Großbritanniens Ausstieg aus Erasmus+

Mit dem Ausstieg aus der EU hat sich Großbritannien auch aus Erasmus+ verabschiedet. Erasmus+ ist das größte europäische Bildungsprogramm, unter dessen Dach 2014 alle EU-Programme für lebenslanges Lernen, Jugend und Sport sowie Kooperationsprogramme im Hochschulbereich zusammengeführt wurden. Auslandssemester für Studierende werden ebenso organisiert wie gemeinsame Bildungsprojekte, Programme für Erwachsenenbildung, Schüleraustausch und Auslandspraktika.

Eigenes Austauschprogramm für Briten

Großbritanniens Austritt aus der Union hätte nicht automatisch ein Erasmus-Aus bedeuten müssen, erläutert Calice. "Es sind auch andere Nicht-EU-Länder dabei, zum Beispiel Serbien. Das ist eine rein politische Entscheidung." Noch vor rund einem Jahr verlautbarte der britische Premier Boris Johnson, dass sein Land Teil von Erasmus+ bleiben wolle. Doch dann kam die Kehrtwende: Großbritannien kündigte an, ein eigenes Austauschprogramm aufziehen zu wollen - benannt nach Alan Turing, jenem britischen Mathematiker, der im Zweiten Weltkrieg den Enigma-Code der Wehrmacht entschlüsseln konnte. "Nach jetzigem Stand ist es ein reines Outgoing-Programm. Britischen Studenten soll also ermöglicht werden, im Ausland zu studieren", sagt OeAD-Geschäftsführer Calice. Rund 100 Millionen Pfund (110 Millionen Euro) werden im ersten Jahr in das Programm fließen.
35.000 Studierende sollen auf diese Weise unterstützt werden, ergänzt der britische Botschafter in Wien, Leigh Turner. Großbritannien habe "ein großes Interesse daran, dass britische Studierende weiterhin ins Ausland reisen". Dass dieses Interesse tatsächlich gegeben ist, bezweifelt etwa James Sloam, Politikwissenschafter an der Royal Holloway University of London: "Ich glaube, dass die ideologische Vermutung dahintersteckt, dass Erasmus sehr proeuropäische junge Menschen hervorbringt." Und eben diese Haltung passe nach Ansicht konservativer Brexit-Befürworter nicht zum neuen Großbritannien.

Was passiert mit EU-Bürgern, die sich in Großbritannien fortbilden wollen?

Die gute Nachricht: Für alle, die Erasmus+ bereits nach Großbritannien gebracht habe, ändere sich kaum etwas, beruhigt Jakob Calice. Das Budget für jene Projekte, die bereits genehmigt wurden, werde ausgegeben. "Großteils 2021 und 2022, ein Teil noch 2023." Das heißt: Alle, die bereits im Vereinigten Königreich sind, können ihr Programm abschließen. Zudem sei es ob der weiterreichenden Budgetierung möglich, sich auch für einen Großbritannien-Aufenthalt im Studienjahr 2021/2022 zu bewerben.

Und was passiert nach 2022?

Gibt es dann für Österreicher gar keine Möglichkeit mehr, sich auf den britischen Inseln fortzubilden? Doch. Es könne etwa jede heimische Hochschule individuelle Vereinbarungen mit einem Pendant in Großbritannien treffen, schildert Calice. In Großbritannien besuchte Lehrveranstaltungen anzurechnen dürfte ebenso kein Problem sein: Derzeit gebe es keine Anzeichen dafür, dass sich das Vereinigte Königreich auch aus dem Bologna-Prozess und somit aus dem gemeinsamen System zur Anrechnung von Studienleistungen verabschiedet.

Wer übernimmt die hohen Studiengebühren?

Aber: Durch den Ausstieg aus Erasmus+ fehle der strukturierte Rahmen für Hochschulkooperationen. "Eine der größten Hürden wird das Thema Gebühren sein", ergänzt Calice. Die Studiengebühren in Großbritannien seien traditionell viel höher als jene in Österreich: Im Schnitt zahlt ein Bachelorstudent im Vereinigten Königreich umgerechnet rund 6500 bis 10.500 Euro pro Studienjahr. "Die Frage wird sein, wie viele ausländische Studierende britische Unis de facto gratis aufnehmen werden." Ein Argument könnte der Austausch sein: Will eine britische Universität ihren Studierenden eigenständig ein Auslandssemester in Wien oder Salzburg ermöglichen, müsste sie bereit sein, Kooperationen einzugehen.

Erasmus+ bietet Alternativen

Auch von britischer Seite kommen positive Signale. Botschafter Leigh Turner hält fest, dass Studierende aus der EU weiterhin "sehr willkommen" seien. Und er ergänzt: "In Großbritannien kommen ungefähr 21 Prozent aller Studenten aus dem Ausland." Indessen wird es auch von Erasmus+ Alternativen geben. Wer sich Großbritannien etwa ausgesucht hat, um sein Englisch aufzubessern, könne stattdessen die stark englischsprachig orientierten skandinavischen Länder oder Irland wählen, sagt OeAD-Geschäftsführer Calice. Aber: "Ich glaube, Irland wird nicht in der Lage sein, alle aufzunehmen, die nach Großbritannien gegangen wären." Auch deshalb wünscht sich Calice, dass sich Großbritannien überlegt, "mittelfristig zumindest als Partnerland bei Erasmus+ dabei zu sein".

Wales und Schottland wollen Erasmus+ erhalten bleiben

Ein positives Signal kam vor wenigen Tagen von mehr als 140 EU-Parlamentariern. Diese sprachen sich in einem offenen Brief dafür aus, dass zumindest Schottland und Wales Erasmus+ erhalten bleiben. "Jeder junge Mensch in Europa sollte die Chance haben, an einem Austauschprogramm teilzunehmen", sagte Terry Reintke, stellvertretende Vorsitzende der Grünen im EU-Parlament. Bei Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon rennen die Abgeordneten damit offene Türen ein. Die Politikerin bezeichnete den Erasmus-Ausstieg als "Kulturvandalismus". Und sie versprach, "alternative Optionen" auszuloten.