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Alltag von Studierenden hat sich drastisch verändert - die Unbeschwertheit ist weg

Zwischen Onlineunterricht, Isolation und Orientierungslosigkeit. Was machen vier Semester Coronapandemie mit angehenden Akademikerinnen und Akademikern?

Kein „unbeschwertes Miteinander“ bei Studierenden.
Kein „unbeschwertes Miteinander“ bei Studierenden.

Rudolf Renger überlegt kurz. "Die deutlichste Auswirkung der vergangenen vier Semester war, dass sich unter meinen Studierenden eine spürbare Sprachlosigkeit ausgebreitet hat", erzählt der Professor für Interpersonelle Kommunikation an der Universität Salzburg. Er wünscht sich die Zeiten zurück, als im Hörsaal noch rege diskutiert wurde. "Dass sich Studierende untereinander austauschen, ist das Salz in der Suppe eines jeden akademischen Studiums! Die Diskursfähigkeit, die Erfahrung im Umgang mit Kritik und kritischer Debatte - das alles flacht leider stark ab, wenn man sich nur mehr online sieht."

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„Dass sich Studierende austauschen, ist das Salz in der Suppe eines jeden Studiums.“ Rudolf Regner, Professor für Interpersonelle Kommunikation

Ein weiterer Nebeneffekt der Onlinelehre: Der Zeitaufwand ist deutlich gestiegen. Sowohl für Schüler, Studierende als auch für Lehrende. Das hat ein Forschungsteam der Fakultät für Psychologie an der Universität Wien herausgefunden mit der Studie "Lernen unter COVID-19-Bedingungen". 85,1 Prozent der Lehrer/-innen gaben dabei an, mehr Stunden als unter Normalbedingungen zu arbeiten, 60 Prozent sogar deutlich mehr: Sie müssen Lehrmaterialien anpassen und digitalisieren, sich um Urheberrechtsfragen und Videokonferenztechnik kümmern, Arbeitsaufträge korrigieren. Der Kommunikationsbedarf der Schüler und ihr Ruf nach Unterstützung sind ebenfalls deutlich gewachsen. Renger kann das bestätigen: "Im Frühjahr 2020 war die größte Herausforderung, dass die Universitäten von Politik wie auch Ministerium vollkommen alleingelassen wurden", erinnert sich der Kommunikationsexperte. "Man musste sich im Schnellsiede-Selbststudium in kürzester Zeit die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten des E-Learning antrainieren. Und zwar so, dass es in der Unterrichtspraxis sofort funktionieren konnte."

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„Viele Studierende gehen noch sehr vorsichtig miteinander um aus Angst, sich oder andere anzustecken.“ Bibiane Freunberger-Rendl, Leiterin der Psychologischen Studierendenberatung

Die Coronapandemie hat den Alltag von Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden drastisch verändert. "Vor allem Einsamkeit, Isolation und Orientierungslosigkeit sind Themen, die die vergangenen beiden Jahre mit sich gebracht haben", sagt Bibiane Freunberger-Rendl, Leiterin der Psychologischen Studierendenberatung am Salzburger Mirabellplatz. Momentan werde die Beratungsstelle deutlich öfter angefragt als noch vor der Pandemie, von Studierenden aller Unis und Fachhochschulen im Bundesland. "Viele, die gerade ein Studium begonnen haben, haben die Uni nie von innen gesehen", schildert Freunberger-Rendl. "In Nicht-Pandemie-Zeiten tauscht man sich nach der Vorlesung aus, findet rasch Anschluss. Das ist über weite Strecken weggefallen. Es braucht viel Selbstorganisation. Für viele, die von der Schule ins Studium wechseln, ist das eine große Herausforderung." Manche hätten ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen erst nach zwei oder mehr Semestern live kennengelernt. "Und auch jetzt gehen viele Studierende noch sehr vorsichtig miteinander um aus Angst, sich oder andere anzustecken. Das steht im Widerspruch zu Freiheit und Autonomie, zum Sich-Ausprobieren, das ein Studium auch ausmacht", stellt Freunberger-Rendl fest. "Das unbeschwerte Miteinander am Unicampus ist verloren gegangen."

Regelmäßige Webinare zu den neuen Herausforderungen

Regelmäßig bietet die Psychologische Studierendenberatung Webinare an: zu Themen wie Prüfungsangst, effektivem Lernen, Stressbewältigung oder wie man in eine gute Tagesstruktur findet. "Uni und Freizeit zu trennen ist schwieriger geworden, weil alles an einem Ort stattfindet. Manche haben Angst vor den Onlineprüfungen, ob sie klarkommen, wenn technische Probleme auftauchen", umreißt Freunberger-Rendl die vielfältigen Anliegen der Studierenden. Auch Rudolf Renger hat wahrgenommen, dass seine Studierenden mehr Orientierung als sonst benötigen: "Ich habe ganz bewusst mehr Sprechstundentermine angeboten, in Seminaren habe ich ,Einzelgespräche' via Videomeeting bzw. Kleingruppentreffen gemacht - und ich habe versucht, auf studentische Anfragen per E-Mail so unmittelbar wie möglich zu antworten, um während der diversen Lockdowns zu vermitteln: ,Ihr steht nicht allein da'", schildert der Salzburger Professor seine persönlichen Erfahrungen. Gleichzeitig räumt er ein: "Generell bedeutet Studieren immer eigenständiges Lernen - im Austausch mit anderen. Die massive und aktive Moderation des Studienprozesses durch Lehrende oder Professorinnen und Professoren ist damit nicht gemeint."

Pluspunkte der Onlinelehre

Bei allen Herausforderungen: Die Onlinelehre hat auch ihre Pluspunkte. Die Studie "Lernen unter COVID-19-Bedingungen" etwa zeigt, dass sich viele Studierende als Lernende besser kennengelernt haben. Sie wissen nun, welche Strategien für sie individuell besonders sinnvoll und effizient sind, wenn es darum geht, Aufgaben zu lösen. Den Umfrageergebnissen aus dem Juni und Juli 2021 zufolge wünscht sich ein gutes Viertel der befragten 1635 Studierenden weiterhin Home Learning an den Hochschulen, knapp die Hälfte bevorzugt eine Mischung aus Online und Präsenz.

Auch Kommunikationsexperte Renger sieht durchaus Vorteile im Digitalen:
"E-Learning würde viel ermöglichen, wenn es nicht wie in den vergangenen Monaten nur ersatzweise angewendet werden würde. Die Angebote müssen aktiv moderiert werden, damit sie für Studierende gut funktionieren. Es braucht interaktive Angebote wie Kleingruppenaufgaben, Austausch in Zweierteams oder Vorbereitung von Zwischenpräsentationen, damit sich Studierende wirklich mit Themen auseinandersetzen können. Wenn solche Sachen gelingen, dann unterrichte ich auch gern online. Aber dafür reicht eine 40-Stunden-Woche nicht, wenn man mehr als drei Lehrveranstaltungen hat."