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Stundenreduktion in der Sozialwirtschaft: Weniger wird mehr

Mit Jahresbeginn ist in der Sozialwirtschaft eine Senkung der Arbeitszeit in Kraft getreten. Vollzeitbeschäftigte haben jetzt ein Stundensoll von 37 Stunden.

Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen im Gesundheits- und Sozialbereich ist auch Kathi Premm eine Quereinsteigerin: Die 37-jährige Salzburgerin hat ursprünglich Kommunikationswissenschaft studiert, später in der IT-Branche gearbeitet, bevor sie vor sieben Jahren "eher durch Zufall" im Sozialbereich gelandet ist. Premm arbeitet in einer Einrichtung der Lebenshilfe in der Fürbergstraße, wo sie sich - wie sie sagt - sehr wohlfühlt. Zusammen mit zehn anderen Betreuerinnen in dieser Sozialeinrichtung unterstützt und begleitet sie hier Menschen mit Beeinträchtigung.

Bei gleichem Gehalt eine Stunde weniger arbeiten

Als Vollzeitkraft gehört sie seit Beginn des heurigen Jahres mit zu denjenigen Beschäftigten, die bei gleichem Gehalt wöchentlich eine Stunde weniger arbeiten müssen. Schon im Jahr 2020 wurde diese Arbeitszeitverkürzung von den Kollektivvertragspartnern beschlossen, in Kraft getreten ist die Neuerung nun mit 1. Jänner 2022. Insgesamt sind im Kollektivvertrag der Sozialwirtschaft Österreich 125.000 Beschäftigte erfasst, die ein breites Spektrum an Leistungen abdecken: von mobilen Pflegekräften und Haushaltshilfen über Jugend- und Flüchtlingsbetreuerinnen bis hin zu Mitarbeitern in der Sozialpsychiatrie, der Behindertenhilfe und vielen mehr. Mit der Reduktion der Arbeitszeit im Kollektivvertrag hat man sich nun ein Stück weit mehr an die Wirklichkeit in dieser Branche angenähert, denn: Weit mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer sind im (privaten) Pflege-, Gesundheits- und Sozialbereich als Teilzeitkräfte beschäftigt. Diese wiederum profitieren nun zwar nicht direkt von einer kürzeren Arbeitszeit, dafür aber von einer Lohnerhöhung um 2,7 Prozent. Christoph Eschbacher, Betriebsratsvorsitzender bei der Lebenshilfe Salzburg, erkennt in der Änderung des Kollektivvertrags und der Verringerung der Arbeitszeit grundsätzlich die richtige Stoßrichtung, will aber in den nächsten Jahren noch mehr erreichen. "Da wird in absehbarer Zeit noch mehr passieren müssen. Aber wir spüren, dass sich der Wind langsam dreht: Es wird auch unseren Auftraggebern langsam klar, dass es in unserem Bereich statt Sparmaßnahmen nachhaltige Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und beim Gehalt geben muss."

Positive Effekte der Stundenreduktion auch für die Arbeitgeberseite

Auch von Arbeitgeberseite wird die Reduktion der Wochenarbeitszeit bei der Lebenshilfe begrüßt. Aus mehreren Gründen, wie Guido Güntert, Geschäftsführer der Salzburger Lebenshilfe, betont. In einzelnen Bereichen komme es dadurch nun sogar zu praktischen Erleichterungen, führt er aus. "Vor allem im Bereich unserer Wohneinrichtungen gibt es spezielle Arbeitszeiten wie Nacht- oder Wochenenddienste. Diese sind für die Vollzeit-Arbeitskräfte mitunter sogar schwieriger zu planen, weil ja auch gesetzliche Ruhezeiten zwischen den Arbeitsphasen eingehalten werden müssen", erklärt er. Weniger Wochenstunden erleichterten diese Planung nun. "Andererseits ergibt sich durch die Stundenreduktion natürlich ein zusätzlicher Bedarf an Mitarbeitern, der ausgeglichen werden muss", räumt er ein. Aber auch darin erkennt er auf längere Sicht positive Effekte: "So können wieder neue Stellen geschaffen werden."

Insgesamt 25 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden derzeit für unterschiedlichste Aufgabenbereiche bei der Lebenshilfe gesucht. Aufgenommen werden nicht nur ausgebildete Fachkräfte, sondern gerne auch Quereinsteigerinnen. "Wer keine einschlägige Ausbildung hat, erhält die Möglichkeiten, sich bei uns berufsbegleitend auszubilden", betont Guido Güntert. "Menschen, die eine erfüllende Tätigkeit suchen, sind bei der Lebenshilfe absolut richtig", ist er überzeugt. "Wer bei uns arbeitet, engagiert sich in einem modernen, krisensicheren Unternehmen mit partizipativer Führungskultur, das den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt."

Niedriges Einkommensniveau im Sozialbereich erschwert die Mitarbeitersuche

Einen großen Hemmschuh bei der Suche nach Mitarbeitern sieht er allerdings "ganz banal" im generell niedrigen Einkommensniveau der Branche. "Die hohen Mietpreise und Lebenserhaltungskosten lassen oft keinen finanziellen Spielraum", so Güntert. "Viele Menschen, die grundsätzlich Interesse daran hätten, in einem sozialen Unternehmen zu arbeiten, sind gezwungen, sich nach der Decke zu strecken und sich in lukrativeren Branchen umzusehen."

Bild: SN/lebenshilfe
Eine gute Work-Life-Balance wirkt sich positiv auf die Arbeit aus.
Guido Güntert, GF Lebenshilfe Salzburg

Hinter dem Konzept einer - auch längerfristigen - Senkung der Arbeitszeit im Bereich der Sozialwirtschaft stehe er deshalb "voll und ganz", setzt Güntert nach. "Die Tätigkeit unserer Mitarbeiter ist anspruchsvoll und je mehr man da in Richtung einer guten Work-Life-Balance lenken kann, desto attraktiver wird auch das Arbeitsfeld." Dabei ist es ihm wichtig, den Bereich der sozialen Arbeit nicht als besonders belastend zu brandmarken. "Alle Berufe haben ihre speziellen Herausforderungen und jene in der Sozialwirtschaft eben auch", meint er. "Die Burnout-Raten zeigen ganz allgemein, dass Überlastungen in der Arbeitswelt generell ein Thema sind." Was in der Sozialwirtschaft zusätzlich zu Buche schlage, sei, so Güntert, sicherlich der überdurchschnittlich hohe Frauenanteil. "Es ist leider auch im Jahr 2022 noch immer so, dass die Frauen die Hauptaufgaben bei der Kinderbetreuung übernehmen, was einfach zu Doppelbelastungen führt."

Wo aber liegen tatsächlich die spezifischen Herausforderungen der Arbeit im Gesundheits- und Sozialbereich?

Birgit Artner, Leiterin der Arbeits- und Organisationspsychologie beim AMD Salzburg, erklärt die Bedingungen folgendermaßen: "Grundsätzlich sind die Betreuungs- und Pflegekräfte bei ihren Tätigkeiten oft mit schwierigen Lebenslagen der betreuten Personen konfrontiert, wie Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit. Die Umstände sind meist auch so, dass man als Betreuungs- oder Pflegekraft nur bedingt Einfluss auf Verbesserungen nehmen kann", sagt die Psychologin. "Da ist viel emotionale Anstrengung und Empathie gefragt, gleichzeitig verlangt dieses Arbeitsfeld auch ein sehr hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein." Daneben komme in einigen Bereichen auch eine starke körperliche Belastung hinzu, führt sie aus. All das sei - in der Kombination der emotionalen, kognitiven und oft auch körperlichen Belastungen - schlicht und ergreifend anstrengend.

Kann eine Stunde weniger Arbeitszeit pro Woche hier überhaupt zu einer Entlastung beitragen? "Bei einer Wochenstunde überschreitet der symbolische Wert dieser Neuerung wahrscheinlich den tatsächlich nachweisbaren Erholungseffekt", meint Artner. "Trotzdem", zeigt sie sich überzeugt, "ist die Anerkennung, die sich in dieser Stundenreduktion ausdrückt, ein wichtiger und nicht zu unterschätzender Faktor. Anders als in anderen Berufen sind die Leistungen im Gesundheits- und Sozialbereich oft schwer sichtbar zu machen, dementsprechend geringer fällt leider auch das Feedback aus. Die Erfolgserlebnisse müssen sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vielfach selber schaffen."

Kein Bewertungsschema für Leistungen im Gesundheits- und Sozialbereich

Dass sich die Leistungen im Gesundheits- und Sozialbereich weitgehend einem Bewertungsschema entziehen, thematisiert auch Kathi Premm. "Unsere Arbeit kann schwer gemessen oder in ein Raster gepresst werden: Es ist unmöglich, dass wir uns - überspitzt formuliert - mit jedem Klienten genau acht Minuten beschäftigen. Einige Klientinnen brauchen mehr, andere weniger Zuwendung oder Hilfe und alles hat seine volle Berechtigung." Dass man persönlich in einer guten psychischen Verfassung und gut erholt sei, habe aber im Sozialbereich noch einmal eine tiefere Bedeutung, ist sie überzeugt: "Wenn man in einem Produktionsbetrieb arbeitet und einen schlechten Tag hat, dann ist schlimmstenfalls ein Produkt kaputt. Das ist zwar nicht optimal, aber auch nicht dramatisch. Wenn man in unserem Tätigkeitsbereich einen schlechten Tag hat, dann leiden in der Folge Menschen darunter."

Der Sozialbereich habe es sich einfach verdient, ein guter Arbeitsbereich zu sein, meint die Lebenshilfe-Mitarbeiterin, die in der Senkung der Wochenarbeitszeit vorerst einmal ein gutes Signal, nicht aber das Ende der Entwicklung sieht. "Menschen, die in diesem Bereich tätig sind, sollten einfach Bedingungen vorfinden, in denen sie langfristig und gesund arbeiten können." Einen anderen wichtigen Aspekt erkennt sie auch hinsichtlich der Qualität der Betreuung: "Gerade bei der Arbeit mit Menschen ist es wichtig, verlässliche Vertrauensbeziehungen zu schaffen. Wenn die Arbeitsbedingungen belastend sind und die Work-Life-Balance nicht stimmt, wird sich das immer in einer hohen Mitarbeiterfluktuation abzeichnen, was wiederum keine guten Betreuungsbeziehungen entstehen lässt", erklärt sie mit Nachdruck. "Und das bringt dann niemandem etwas: weder den betreuten Menschen noch den Mitarbeitern und auch den Unternehmen nicht."