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Einblick in die berufliche Praxis für Lehrkräfte

Ein Jahr nicht unterrichten, sondern in einem Unternehmen arbeiten. Das Programm "Seitenwechsel" richtet sich an Lehrer, bietet aber auch Schülern und Betrieben neue Perspektiven.

Programm „Seitenwechsel“: Eine Lehrkraft verbringt ein Jahr als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter in einem Unternehmen und gibt danach die Erfahrungen in der Schule weiter.
Programm „Seitenwechsel“: Eine Lehrkraft verbringt ein Jahr als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter in einem Unternehmen und gibt danach die Erfahrungen in der Schule weiter.

Für eine gewisse Zeit in die Privatwirtschaft wechseln, diesen Wunsch hatte Martina Lemmé. Die Lehrerin für Mathematik und Chemie an einem BORG in Wien wollte neue Erfahrungen sammeln. Außerdem wurde sie immer wieder von ihren Schülern gefragt, wofür sie das Erlernte im späteren Leben bräuchten. "Es ist etwas anderes, wenn man ihnen aus persönlicher Erfahrung lebensnah berichten kann", ist Lemmé überzeugt. Eine Bekannte berichtete ihr vom Projekt "Seitenwechsel", für das sich Lemmé bewarb. Tatsächlich fand sich ein zu ihren Fähigkeiten und Interessen passendes Unternehmen. Seit Anfang September 2021 arbeitet sie nun für ein Jahr bei der Semperit AG Holding in Wimpassing.

"Ich kann mein Fachwissen einsetzen und lerne jeden Tag dazu."
Martina Lemmé
Lehrerin für Mathe und Chemie

Martina Lemmé ist eine von acht Lehrerinnen und Lehrern in Österreich, die über den ersten Durchgang des Projekts "Seitenwechsel" den Weg in einen Betrieb gefunden haben.

Programm "Seitenwechsel": Anmeldung noch bis 31. Jänner 2022

Das Projekt wird von der Mega-Bildungsstiftung getragen und richtet sich an Lehrkräfte, die an einer Schule der Sekundarstufen eins oder/und zwei, also auch Sonderpädagogen, beziehungsweise an einer Berufsschule unterrichten. Aktuell können sich Interessierte noch bis 31. Jänner auf www.seitenwechsel.at für den zweiten Durchgang bewerben.

Das Programm läuft über 24 Monate. Ein Jahr verbringt die Lehrkraft als Mitarbeiterin in einem Unternehmen. Sie ist dabei von ihrem Dienstgeber zu Ausbildungszwecken karenziert, die Zeit im Betrieb wird also als Dienstjahr angerechnet. Die Arbeitszeiten und Urlaubstage richten sich nach den Gegebenheiten im Unternehmen. Dieses übernehme auch 14 Monatsgehälter und die Lohnnebenkosten, informiert Erwin Greiner, einer der Initiatoren von "Seitenwechsel" und pensionierter Lehrer. Seine Motivation für das Projekt: "Wir sollen Kinder und Jugendliche auf die Welt außerhalb der Schule vorbereiten, die wir selbst nicht kennen." Mit "Seitenwechsel" soll sich das ändern.

Die Lehrer sollen deshalb im zweiten Jahr, nach ihrer Rückkehr an ihre Schulen, dort ihre gesammelten Erfahrungen weitergeben. Davon profitieren sollen sowohl die Schüler als auch die Schule. Die Lehrkraft kann etwa Informationen weitergeben, die auf die Berufswahl Einfluss haben, Einblick in schulexterne Managementprozesse geben oder Impulse bei der Unterrichts- und Schulentwicklung setzen.

Was passiert jedoch, wenn es einem Lehrer so gut im Betrieb gefallen sollte, dass er bleiben will oder gar vom Unternehmen abgeworben wird?

"Wir bringen niemanden mit Handschellen zurück an die Schule", versichert Greiner. Sowohl die Lehrer als auch die Unternehmen hätten versichert, dass der Fokus auf den Schülern liege und sie von dem Projekt am meisten profitieren sollten. Greiner hofft, dass sich beide Seiten an diese Abmachung halten.

Dass Lemmé ein Jahr die Seiten wechseln will, habe ihre Schulleitung unterstützt und die Karenzierung sofort befürwortet, erzählt Lemmé. Unter der Woche wohnt sie nun in einer Werkswohnung in Wimpassing, die ihr günstig von der Firma zur Verfügung gestellt wird. Gewöhnen musste sich Lemmé an den neuen Arbeitsalltag. "Er ist sehr viel abgegrenzter und strukturierter", berichtet sie. Zwar sei die Zeiteinteilung weniger frei als an der Schule, "doch wenn ich mit der Arbeit fertig bin, dann bin ich wirklich fertig". Der Verzicht auf Urlaub beziehungsweise Ferienwochen macht Lemmé nichts aus. Dafür sind für sie die Wochenenden wie Kurzurlaube. Da sie keine Schularbeiten korrigieren muss, bleibt von Freitagmittag bis Sonntagabend Zeit, Freunde und Familie zu besuchen - soweit es die Covid-19-Maßnahmen ermöglichen.

"Wir wollen die künftige Berufswahl von Schülern unterstützen."
Petra Preining
CFO Semperit AG Holding

Vor ihrer Rückkehr an ihre Schule in Wien genießt Martina Lemmé die verbleibenden Monate bei der Semperit AG Holding, die medizinische und industrielle Produkte aus Kautschuk herstellt. "Man lernt jeden Tag dazu, das ist das Spannende", sagt die 39-Jährige. Sie ist in der Abteilung Forschung und Entwicklung tätig und unterstützt in den Fachbereichen chemisches Labor, physikalisches Labor und Prozessentwicklung. "In der Prozessentwicklung hat sie bereits ein Berechnungsverfahren für den Vulkanisationsprozess optimiert - hier waren ihre mathematischen Kenntnisse von enormem Vorteil", schildert Petra Preining, Chief Financial Officer (CFO) - Finanzvorständin -, bei der Semperit AG Holding.

Rückblickend sei ihr zeitlich befristeter Wechsel in die Wirtschaft ein Sprung ins kalte Wasser gewesen, weil sie nicht gewusst habe, was auf sie zukomme, schildert Lemmé. Außerdem müsse man bei null anfangen, weil man sich noch keine Position erarbeitet habe. Sie bereut ihren Schritt jedoch nicht. "Die Arbeitsbedingungen sind super. Ich kann mein Fachwissen einsetzen und man kommt raus aus dem Alltagstrott."

Semperit hat sich auf die neue Mitarbeiterin vorbereitet. "Wir haben vorab Arbeitspakete geschnürt, um mit möglichst wenig Schulungs- und Einarbeitungsaufwand starten zu können", erklärt Preining. Sie beschreibt Lemmé als äußerst interessiert und motiviert und bescheinigt ihr ein schnelles Auffassungsvermögen. Allerdings bedauert sie: "Der Umstand, dass sie nur ein Jahr bei uns ist, bringt den Nachteil mit sich, dass eine tiefgehende Wissensvermittlung aus Zeitgründen ausbleiben muss."

Die Teilnahme der Holding am "Seitenwechsel" erklärt Preining mit der Möglichkeit, einen anderen Blickwinkel auf interne Prozesse zu gewinnen. "Unser Benefit liegt darin, jemanden Betriebsexternen aus einem ganz anderen strukturellen Umfeld zu beschäftigen, der mit unseren Prozessen das erste Mal in Berührung kommt und unvoreingenommen Feedback geben kann. Darüber hinaus profitieren wir davon, mit Schulen und Lehrkörpern in engem Kontakt zu stehen und einen Einblick in die Arbeitswelt bei Semperit zu gewähren, den man sonst nicht so einfach erhält und der im Idealfall die künftige Berufswahl von Schülern unterstützt." Semperit klärt aktuell ab, wie die Holding auch in anderen Unternehmensbereichen eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Projekt initiieren kann.

Martina Lemmé freut sich auf die bevorstehenden Aufgaben. Durch den Seitenwechsel ist ihr aber bewusst geworden: "Ich vermisse meine Schülerinnen und Schüler. Das Jahr in der Wirtschaft ist nur ein Ausflug. Meine Berufswahl war die richtige."